20. Etablierung der mathematischen Stichprobentheorie

Dass überhaupt trotz der Skepsis gegenüber den Verfahren die mathematische Stichprobentheorie sich zu etablieren begann, ist nicht Folge wissenschaftlichen Disputierens in Kongressen und Zeitschriften, sondern ergibt sich, wiederum einem wissenschaftshistorischen Muster folgend, mit Aufsehen erregenden Anwendungen in der Praxis.

Der eine Durchbruch hat dazu geführt, dass Bowley sich in seinem Unterfangen bestätigt führt, die andere, auf der Basis der Idee des mathematisierten represantitive sampling, bescherte der Öffentlichkeit die Meinungsforschung.

  • Ein Erdbeben in Tokyo im Jahre 1923 zerstörte grosse Teile der Volkszählungsdaten. Allerdings lag ein Verzeichnis der Haushalte Tokyos vor. Die Behörden recherchierten jeden 1000 Haushalt, die Haushaltsnummer 500, 1000, 1’5000 usf des 11 Millionen Haushaltungen umfassenden Registers und publizierten 1924 die Alters- und Geschlechterverteilungen der Bevölkerung Tokyos, die Grösse der Haushalte usf., um damit der Administration wieder die notwendigen Informationen zur Versorgen Tokyos zur Verfügung zu stellen. Die Differenzen zwischen den Ergebnisse der Stichproben und der später vollzogenen Volkszählung waren gering und im Bereich der mathematisch erwartbaren Fehlerspanne. Dieses Vorgehen beschrieb auch im wesentlichen jenes von Bowley. Die Urne, das war der Stadtplan und das Häuserverzeichnis, aus dem dann jedes n-te Haus gezogen wurde. Sofern keine Gründe vorliegen, dass eine Konstante die Auswahl der n-ten Einheit stört, kommt dieses Vorgehen einer reinen Zufallsauswahl gleich. Von Bowley stammt auch die in der Stichprobentechnik auch heute noch vielfach gebrauchte Masszahl, wie gross denn die Stichprobe sein soll, um Stichprobenfehlerbereiche schätzen zu können: in ungefähr 1000 Einheiten in der Stichprobe, so Bowley, sollte für die meisten Fragestellungen hilfreicher sein. Der Grund für die häufige Verwendung dieser Zahl bei "repräsentativen Stichproben" ist denn heute in wissenschaftlicher Gewohnheit zu finden.

Meinungsforschung und Stichprobe: Ein politisches Spiel

  • Spektakulärer ist jedoch der Durchbruch der Stichprobentechnologie in der Meinungsforschung. Sie führte dazu, dass das Ziehen "repräsentativer Stichproben" und Meinungsforschung oft sogar gleichgesetzt werden. Im Französischen wird dafür sogar dasselbe Wort verwendet: Sondages. Diese "Erfolgsgeschichte" des Samplings wird in den Methodenbüchern gerne erzählt.

In den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts war ein politisches Spiel besonders beliebt: aufgrund von Probeabstimmungen sollten die kommenden Präsidentschaftswahlen vorausgesagt werden, zuweilen auch Fragen über andere politische Fragen erhoben werden. Solche straw polls waren an den verschiedensten Veranstaltungen und bei den verschiedensten Gelegenheiten gang und gäbe. Bei allen möglichen und unmöglichien Gelegenheiten wurden Probeabstimmungen durchgeführt und die Stimmen zu einem Gegenstand aufsummiert und miteinander verglichen. Diese Institution hat erstaunlicherweise überlebt: so etwa in sogenannten TED-Umfragen bei Fernsehsendern, bei dem die Fernsehzuschauer per Telefon ihre Meinung abgeben und dafür bezahlen. Aber auch das Internet bietet eine solche Plattform. Fast jedes grössere Webportal bietet heute die Möglichkeit, Abstimmungen online durchzuführen, mit zuweilen etwas bizarren Resultaten und Vorkommnissen.

  • Beispiel: Beobachter 18/01
    "Schiessobligatorium: Flankenfeuer aus dem Schützengraben. Schweizer Schützenkreise haben bei einer Beobachter-Umfrage kräftig mitgewirkt."
    Von Thomas Angeli
    «Soll das ‹Obligatorische› abgeschafft werden, damit in vielen Gemeinden der Schiesslärm reduziert wird?», wollte der Beobachter bei seiner Internetabstimmung im Juli wissen (Nr. 14). Die anfängliche Ja-Mehrheit hatte nicht lange Bestand: Innert weniger Tage kippte das Resultat. Endstand: Satte 76 Prozent waren gegen die Abschaffung des «Obligatorischen». «Wie lange dauert die Umfrage?» 1814 Personen machten bei der Umfrage mit, dreimal mehr als sonst. Des Rätsels Lösung findet sich in der «Schweizerischen Schützenzeitung» vom 19. Juli: «Dank dem Zusammenhalt unter den Schützen änderte sich der Nein-Stimmen-Anteil von Tag zu Tag mehr zu unseren Gunsten», schreibt dort Vreny Zaugg, Aktuarin des Thurgauischen Kantonal-Schützenvereins, über die Nein-Stimmen-Aktion aus Schützenkreisen. Einige Tage zuvor hatte sich Zaugg bei der Beobachter-Redaktion per E-Mail erkundigt, «wie lange die Umfrage betreffend Abschaffen des ‹Obligatorischen› noch dauert». Bleibt also bloss zu wiederholen, was der Beobachter auch sonst unter die Ergebnisse schreibt: «Die Umfrage ist nicht repräsentativ.»
  • Beispiel: CNN vom 11. September 2001.